"Rumpelstilzchen" über Kurt Riezler

*MEMORANDUM VON DR. HELPHAND*

Berlin, 9. März 1915

/Anmerkung: Sein Exposé einer Revolution in Rußland hat Helphand zunächst mündlich erläutert. Das hier in knappsten Auszügen vorgestellte „Memorandum“ sollte den Inhalt des Gesprächs zusammenfassen. Das gesamte Manuskript umfaßt 14 Druckseiten. Das Original ist 23 großzügig gegliederte Schreibmaschinenseiten lang./

/Helphand war unter seinem Parteinamen Parvus einer bekanntesten marxistischen Theoretiker Europas. Als führender Kopf der russischen Revolution von 1905 hatte er auch praktische Erfolge vorzuweisen. Ohne diesen Hintergrund –  als bloße Überlegung – wäre das Memorandum sicher nicht mit einer sofortigen Auszahlung von einer Million Reichsmark honoriert worden. Man bezahlte nicht den Plan allein, so genial er war: Man kaufte den Macher, von dem eine Verwirklichung des Planes zu erhoffen war./

/Inhalt des gesamten Exposés ist die Entfeudalisierung Rußlands und die Machtübernahme durch Sozialisten. Erreicht werden sollte das Ziel durch Entfesselung nationaler Revolten in den Randstaaten (Finnland, Ukraine, Polen...) und durch Arbeiterrevolten in den Zentren (Petrograd, Moskau, Kiew...)/

/Es folgen kurze Textbeispiele./

Vorbereitungen sind zu treffen für einen politischen Massenstreik in Rußland, er hat stattzufinden im Frühling, unter der Losung „Freiheit und Frieden“. Das Zentrum der Bewegung wird Petrograd sein, und innerhalb Petrograds die Obnuhov-, Putilov- und Baltischen Fabriken. Der Streik soll die Eisenbahnverbindungen zwischen Petrograd und Warschau und Moskau und Warschau unterbrechen... soviele Eisenbahnbrücken wie möglich sind zu sprengen, wie schon während der Streikbewegung 1904 und 1905. Sollten die Arbeiter in Odessa sich erheben, könnte die Türkische Marine unterstützend eingreifen.

Gleichzeitig sollte der allgemeine Trend der Unternehmungen innerhalb der russischen sozialistischen Parteien durch Diskussionen in der Presse, in Pamphleten usf. verstärkt werden.

Der Zarismus braucht schnelle Siege, während er tatsächlich blutige Rückschläge erleidet.

... die Unzufriedenheit im Land wird sich ausbreiten. Diese Massenstimmung wird ausgenutzt, vertieft, ausgebreitet, in alle Richtungen getragen durch den Agitationsapparat... Streiks hier und dort, die Hungerrevolten und die Verstärkung der politischen Agitation – alles wird den Zarismus in Verlegenheit bringen ... Falls andererseits die russischen Armeen einen ernsten Rückschlag erleiden, könnte die Oppositionsbewegung schnell Dimensionen erreichen, von denen jetzt niemand träumt.

... und dann gibt es auch die Zunahme des Nationalgefühls seit Kriegsausbruch. Jedoch angesichts der Niederlagen kann eben dieses Gefühl in Bitterkeit umschlagen und gegen den Zarismus gerichtet werden.

Zitiert nach Z.A.B. Zeman, GERMANY AND THE REVOLUTION IN RUSSIA aus dem Englischen übersetzt von M. Molsner

*"Rumpelstilzchen"*

"Was sich Berlin erzählt" (Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922 und Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923 Glossen 13 - 15 15. bis 29. Dezember 1921

Die radikalrote Presse der Reichshauptstadt ist selig über einen Zeitschriftartikel des "Gesandten a.D." Dr. Kurt Riezler, in dem General Ludendorff als der eigentliche Verderber des kaiserlichen Deutschlands dargestellt wird, als ein Mann von grenzenloser Einbildung, aber ohne Bildung, ohne Charakter, ohne Talent, ohne Wahrheitsliebe. Das Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie ist von dem Artikel so begeistert, daß es beantragt, er solle auf Reichskosten in sämtlichen deutschen Gemeinden angeschlagen werden. Wer lacht da? Oder vielmehr: Wer lacht da nicht?

Unsere Generalstäbler pflegten früher einigermaßen gesiebt zu werden. Wenn der bürgerliche Oberstleutnant Ludendorff zum Chef der Operationsabteilung gemacht wurde, so mußte doch wohl was an ihm dran sein; ein Genie und ein Charakter, wie der Graf Schlieffen es war, hatte ein Auge auf ihn geworfen. Daß Lüttich in wenigen Tagen fiel und ein Erschauern über deutsche Kriegskunst durch alle Erdteile ging, das war Ludendorffs Werk; er bekam damals den Pour le mérite, bevor er noch das Eiserne Kreuz hatte. Und dann Tannenberg und die Masurenschlacht und das ganze große "deutsche Wunder" dieser 41/2 Jahre - zu dessen Beurteilung wird die kommende Geschichtschreibung kaum Herrn Riezler heranziehen.

Dank den Millionen seines Schwiegervaters Max Liebermann spielt Riezler in gewissen Berliner Gesellschaftskreisen allerdings als "geistvoller Plauderer" eine große Rolle. Er selbst ist feminin und wird nicht nur von seiner Gattin, sondern auch von Frau Dr. Schiff, geborenen Hirschfeld, einer Stimmungs-Sozialdemokratin der wohlhabenden Schicht, lanciert. Er gehört mit Haut und Haar zu unseren Internationalisten. Wie das alles versippt, verfranst, verschlungen, vertörnt ist miteinander, darüber könnte man einen dicken Materialband herausgeben. Dieser neudeutsche Rattenkönig ist stellenweise erheiternd, stellenweise widerwärtig. Kurt Riezler selbst hat nur ein ganz kleines Rattenwickelschwänzchen; es gibt viele Größere in Israel. Ursprünglich Journalist, wurde er von Geheimrat Dr. Hammann als blutjunger Mensch ins Auswärtige Amt geschoben. Da machte er in Völkerversöhnung und Weltabrüstung schon vor dem Kriege, schrieb unter dem Decknamen "Ruedorffer" das dümmste Buch des Jahrhunderts über Politik, war während des Krieges Legationsrat in Stockholm, dann Botschaftsrat in Moskau und nach der Revolution, bis November 1919, Kabinettsleiter bei dem Reichspräsidenten Fritz Ebert. Seither "lebt er seinen Neigungen", hat aber, da er noch nicht einmal das Schwabenalter erreicht hat und doch schon Millionär und Wirklicher Legationsrat ist, mit dem Leben natürlich noch nicht abgeschlossen und bringt sich nun durch den Artikel gegen Ludendorff wieder in empfehlende Erinnerung.

In Berlin laufen noch manche Leute seiner Sorte herum. Mit ihrem Namen werden sie nicht neben und nach Ludendorff in die Geschichtsbücher kommen. Das ganze Gewimmel wird mit wenigen Worten abgetan werden; könnten diese Leute das schon heute lesen, so würde sie selbstverständlich die Gelbsucht lackieren.

29. Dezember 1921